Großer Rechtsrutsch – wieso AfD und Co. feiern können
ZÜRICH Die Prognosen sind klar: In den Europawahlen behalten etablierte und
proeuropäische Parteien ihre Mehrheit, während rechte Parteien kräftige Zugewinne
feiern.
Rechtsrutsch - wo am klarsten?
In Deutschland, Österreich und Frankreich. «Es ist bemerkenswert: Marine Le Pens
Rassemblement National hat 30 Sitze gewonnen und liegt bei 31,5 Prozent, Emmanuel
Macrons Liberales Bündnis ist auf gerade einmal die Hälfte gekommen», sagt ETH-
Politologin Jana Lipps. In Italien sehen die Prognosen ebenfalls einen klaren Sieg der
Fratelli d’Italia um Georgia Meloni voraus. Wichtig werde auch das Abschneiden der
Rechtsparteien aus Osteuropa, so Sereina Capatt vom Schweizer Thinktank foraus:
«Polen mit seiner PiS, Ungarn mit der Fidesz und Rumänien mit der antieuropäischen
und ultranationalistischen AUR – es wird noch spannend zu sehen, wer sich mit wem
zusammentun wird.»
Was lief in Deutschland?
Die Ampel erhielt einen Denkzettel. Die AfD erzielte mit 16 bis 16,2 Prozent ihr bisher bestes Ergebnis bei
Europawahlen. Die stärkste Kraft wurde die Union. Die Grünen erlitten die stärksten Einbußen im Vergleich
zur EU-Wahl 2019. «Die Regierungskoalition hat als Ganzes eine Schlappe eingefahren», so Politologin Lipps.
«Es gab unpopuläre Gesetzesvorhaben, und unter den zahlreichen Streitigkeiten hat das Gesamtbild der Ampel
gelitten.» Für die Ampel sei das ein ernüchternder Stimmungstest für die nationalen Wahlen. Das Bündnis von
Sahra Wagenknecht erzielte einen Achtungserfolg. «Die Partei füllt als linke Alternative mit migrationskritischen Positionen eine Lücke in Deutschlands linkem
Parteienspektrum», so Lipps. Interessant sei das starke Abschneiden der Union. «Sie scheint in der Opposition offenbar solide Arbeit geleistet und ihr Profil geschärft zu
haben.»
Neuwahlen in Frankreich: Gibt’s jetzt eine Präsidentin Le Pen?
Die rechtsnationale Partei Rassemblement National um Marine Le Pen kam den Hochrechnungen zufolge auf 31,5 bis 32,3 Prozent der Stimmen, Präsident Emmanuel
Macrons proeuropäisches Lager auf nur etwa 15,2 bis 15,4 Prozent. Nach der deutlichen Niederlage hat Macron vorgezogene Parlamentswahlen angekündigt. «Sein Amt
aber stellt er nicht zur Verfügung», sagt ETH-Dozentin Lipps. «Unter diesen Vorzeichen wird es nach einer Parlamentswahl für ihn nicht einfacher, bis 2027 weiter zu
regieren.» Auch in Deutschland melden sich bereits Stimmen aus der Opposition, wonach Kanzler Olaf Scholz im Parlament die Vertrauensfragen stellen solle, was
Neuwahlen nach sich ziehen könnte.
Wieso der Rechtsrutsch?
«Die etablierte politische Mitte leidet klar unter Vertrauensverlust der Wähler in die Politik», so Lipps. «Die nationalen Wahlen der
letzten Jahre haben das bereits bestätigt, insofern wurde der Rechtsrutsch in diesem Masse erwartet.» Der Urnengang fällt in eine
Zeit, in der das Vertrauen der Wähler in die Politik durch zahlreiche Krisen auf die Probe gestellt wird: Die EU wurde von der
Corona-Pandemie, einem Konjunkturrückgang und einer Energiekrise geplagt, befeuert vom russischen Angriffskrieg gegen die
Ukraine.
ANN
GUENTER