Wo stehen da Deutschland und die Schweiz?
«Europa ist nur noch Zaungast der Weltpolitik»
TIANJIN Beim Shanghaier Gipfel demonstrieren China und Russland Geschlossenheit gegen den Westen. Ein Experte
schätzt ein.
Herr Reginold*, warum sollte uns der SOZ-Gipfel in China (siehe Artikel rechts, die Red.) interessieren?
Das Ziel des Gipfels ist letztlich die
Stärkung des «Shanghai-
Spirit» – also eine Alternative zu bieten
zu Europa und dem Westen.
China, Indien und Russland wollen sich als
bevorzugte Partner
gegenüber der EU etablieren, mit
Investitionen,
Infrastrukturprojekten und auch der
Vergabe von Stipendien,
wie China das etwa in Afrika macht.
Sie warnen, der Westen unterschätze die
Allianzbildung der Länder
im «Globalen Süden».
Genau. Wir haben Mühe, diese Form der
internationalen
Beziehungen zu lesen, verstehen sie
deshalb auch nicht und
finden deshalb auch keine Antworten
darauf. In einer
regelbasierten Weltordnung hat man sich an
Abmachungen und Verträge
gehalten. Das war die Sicht des Westens
auf die Welt. Das ist
jetzt augenfällig durch.
Mit welchen Folgen?
Es findet eine
Verschiebung nach Asien statt. Die Musik
wird in Zukunft im
Indopazifik spielen, noch weiter in der
Ferne könnte ein Zeitalter
Afrikas kommen. Wir sind nicht vorbereitet
auf diese Welt. Und
natürlich sind wir herausgefordert, dass
unser Einfluss schwindet.
Europa ist je länger, je mehr nur noch
Zaungast der Weltpolitik.
Da positionieren sich Länder wie China,
Russland und Indien
äußerst clever: einmal als Partner, einmal als Mitbewerber und ab und zu kann man auch Gegner sein. Sie folgen
dem Konzept des Konstellationsdesigns.
Können Sie dieses Konzept kurz umreißen?
Wir sind es gewohnt, mit Regeln zu spielen. Ein faires Ringen, wo alle die gleiche Ausgangslage haben.
Konstellationsdesign zielt darauf ab, die Regeln des Spiels zu verändern, und zwar so, dass man möglichst gut
dasteht, egal, wie das eigentliche Spiel ausgeht. Es ist ein Denken in Opportunität und Chancen, ein Denken in
unterschiedlichen Optionen und auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig.
Wo stehen da Deutschland und die Schweiz? Wir müssen
besser antizipieren, clever vorsorgen und mit diesen Multioptionalitäten spielen. Nicht verbissen an einem Plan,
an einer Richtung, an einer Lösung festhalten, sondern auch mal pragmatisch mit einem langfristigen Ziel
voranschreiten. Es ist eine proaktive Strategie, die konventionell und unkonventionell verbindet. So schaffen wir
günstige Bedingungen für eine volatile Welt.
ANN GUENTER
*Politikberater Remo Reginold arbeitet für das Swiss Institute for Global Affairs.
SOZ-Gipfel: Einheit gegen den Westen
TIANJIN China lädt ein zum jährlichen Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Gastgeber Xi Jinping
erwartete für gestern und heute ein so volles Haus wie noch nie zuvor: Aus über 20 Ländern reisen Spitzenpolitiker und -vertreter
nach Tianjin, darunter Wladimir Putin, Irans Präsident Massud Peseschkian und selbst Indiens Premier Narendra Modi. Auch
Nordkoreas Kim Jong-un kommt, aber als Nichtmitglied des SOZ-Bündnisses erst zur Militärparade in Peking, an die auch Ex-SVP-
Bundesrat Ueli Maurer geht. Es geht um die verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft und Kultur sowie die
künftige Ausrichtung der SOZ.
Dass der indische Premier anreist, ist nicht selbstverständlich. Modi war infolge eines Streits und Spannungen mit Peking das letzte
Mal 2018 in China gewesen. Das zeigt: Die Beziehungen unter den SOZ-Mitgliedern sind mitunter problematisch, ihre geschlossene
Teilnahme an dem Gipfel gerade dieses Jahr aber zentral. Hier solle dem Westen und «dem fernen US-Präsidenten ein ganz anderer
Politikstil» vorgeführt werden – «kein Freund-Feind-Schema, sondern kalte, harte Pragmatik: Mein Feind kann gleichzeitig mein
Partner sein» («Süddeutsche Zeitung»). Chinas Staatsmedien sprechen bereits von «einer
neuen Art internationaler Beziehungen» unter den Ländern des «globalen Südens». GUX